Die neun Höllenkreise von Facebook

Die Göttliche Komödie („Divina Commedia“) ist das Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265 – 1321). Geschildert wird die Reise des Erzählers durch die Hölle. Diese ist ein gewaltiger unterirdischer Trichter, der bis zum Mittelpunkt der Erde reicht und in insgesamt NEUN Höllenkreise unterteilt ist. Die Höllenkreise stehen für Strafbezirke, die Menschen, die zur ewigen Verdammnis verurteilt sind, durchlaufen müssen. Es ist diese Metapher der Hölle, die auch auf Facebook angewendet werden kann. Dabei sind es die Facebook-Nutzer (Privatpersonen wie Unternehmen), die für ihre Sünde – also die Nutzung von Facebook – zur Verdammnis verurteilt sind (zumindest so lange bis sie es durchs Fegefeuer ins ewige Paradies schaffen :-). 

Anders gesagt: Die Nutzung von Facebook und seiner anderen Produkte (u. A. WhatsApp, Instagram, Oculus) zwingen Facebook-Nutzer in einen harten, langen und leidensvollen Weg durch die „Hölle Facebook“. Auf eine Reise durch Dantes bzw. Facebooks neun Höllenkreise (vgl. Abbildung 1). Zugegeben, das klingt jetzt sehr martialisch. Leider kommt die Realität dieser Metapher doch recht nahe, was dieser Blogartikel verdeutlichen soll. 

Abbildung: Die neun Facebook-Höllenkreise (angelehnt an den Dante-Höllentrichter) .

Höllenkreis 1: Das Ende der Privatsphäre

Das gesamte Geschäftsmodell des Konzerns Facebook basiert darauf, seine Nutzer so gut als nur irgendwie möglich zu kennen. Sehr viel besser zu kennen als es Familienmitglieder oder gute Freunde jemals können. Eine Schlüsselrolle dabei spielen die Millionen Likes pro Minute, die Facebook-Nutzer unbekümmert verteilen. Aber auch weniger bekannte Hilfsmittel unterstützen Facebook dabei, seine Nutzer besser kennenzulernen: die Tippgeschwindigkeit beim Verfassen von Posts, Klick- und Scrollverhalten beim Besuch von Facebook oder Bewegungen der Maus (das, auf was der Mauszeiger zeigt, erfährt hohe Aufmerksamkeit gemeinhin).

Entscheidend dabei ist v. a. die schiere Masse an digitalen Signalen und Spuren, die die Nutzer von Facebook-Produkten bei ihren digitalen Aktivitäten hinterlassen. Treffend erklärt hat es der Psychologe Michal Kosinski„Dass wir Lady Gaga mögen oder Harley Davidson, sagt nicht wirklich viel über unsere intimen Eigenschaften. Aber im Durchschnitt haben die Leute viele Likes, und jeder dieser Likes enthüllt ein kleines bisschen. Für einen Menschen muss Information immer eine bestimmte Schwelle überschreiten, damit wir sie überhaupt wahrnehmen. Wenn ein Geräusch zu leise ist, hören wir es nicht. Für den Computer dagegen ist die Schwelle viel niedriger. Auch eine kleine, aber signifikante Korrelation ist für ihn sichtbar, er kann viele Wörter, die Sie in Ihren Facebook Posts verwenden, und viele Likes zusammenfassen, und dann ist die Vorhersage tatsächlich sehr, sehr präzise.“

Zugegeben, über den Umgang von Facebook mit Daten wurde immer schon viel geschrieben. Das hat sich rumgesprochen. Klar ist: Der Konzern Facebook setzt alles daran, Daten über seine Nutzer zu sammeln und auszuwerten. Facebook und Privatsphäre – das ist ein unauflösbarer Widerspruch

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Video: Facebooks Cambridge Analytica Skandal erklärt (englisch).

Höllenkreis 2: Lebenszeitverschwendung unvorstellbaren Ausmaßes

Im Jahr 2019 belief sich die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer von Facebook unter den 14- bis 49-Jährigen Nutzern in Deutschland auf 13 Minuten. Dies ist ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum Jahr 2015, als die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer von Facebook unter den 14- bis 49-Jährigen Nutzern in Deutschland noch 22 Minuten betrug. Immerhin! 

International und durchschnittlich über alle Facebook-Nutzer hinweg sieht das Bild allerdings etwas anders aus: Im Juni 2018 verbrachten Facebook-Nutzer durchschnittlich 58 Minuten pro Tag auf der Plattform und 53 Minuten pro Tag auf Instagram. An anderer Stelle wird für Instagram über eine tägliche Verweildauer bei Nutzern unter 25 Jahren von 32 Minuten berichtet. Die tägliche Verweildauer bei Nutzern über 25 Jahren soll bei 24 Minuten liegen. 

Die genaue Minutenzahl ist letztlich auch völlig egal. Menschen verbringen unglaublich viel Zeit im Netz (sowieso!) und auch mit der Nutzung von Produkten des Facebook-Konzerns. Dazu eine einfache Überschlagsrechnung: Angenommen ein Mensch verbringt pro Tag 30 Minuten mit Facebook, Instagram und WhatsApp (und das scheint konservativ veranschlagt zu sein), dann sind das 185 Stunden pro Jahr oder 1.825 Stunden auf 10 Jahre gerechnet. Das sind dann etwas mehr als 76 Tage (zu je 24 Stunden)Umgerechnet auf 2 Milliarden Facebook-Nutzer weltweit (eigentlich sind es schon mehr) reden wir von 365.000.000.000 (365 Milliarden) Stunden pro Jahr oder 41.666.666 (gut 41 Millionen) Tage pro Jahr, die Menschen mit Facebook-Produkten verbringen

Wenn das nicht eine Lebenszeitverschwendung unvorstellbaren Ausmaßes ist!

Höllenkreis 3: Die Ohnmacht staatlicher Regulierung

Am 10. April 2018 musste der Gründer von Facebook, Mark Zuckerberg, das erste Mal dem amerikanischen Kongress Rede und Antwort stehen; konkret vor dem „Commerce and Judiciary Committee on Privacy, Data Mining, Regulations“. Ganze fünf Stunden. Zu dramatisch waren die Enthüllungen um die britische Firma „Cambridge Analytica“ und die Einmischung Russlands in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zwei Jahre zuvor. Die Befragung Zuckerbergs zeigte deutlich v. a. eines: Die Kluft zwischen dem, was globale Tech-Konzerne tun und dem, was staatliche Institutionen und Behörden wahrnehmen und noch beeinflussen können, ist dramatisch. Auf der einen Seite die libertäre, an ihre digitale Magie und Kunst glaubende Digitalisierungselite. Auf der anderen Seite Politiker und Beamte, die zu oft gar nicht begreifen und verstehen, was in der digitalen Welt alles passiert und möglich ist.

Was 2018 mit der Anhörung Zuckerbergs begonnen hatte fand im Juli 2020 seine Fortsetzung, als gleich vier Chefs globaler Tech-Konzerne (Tim Cook [Apple], Sundar Pichai [Google], Jeff Bezos [Amazon] und erneut Mark Zuckerberg [Facebook]) vom gleichen Senatsausschuss „gegrillt“ wurden. Im Fokus der Befragungen dieses Mal: die Frage, ob und wie Internetkonzerne und die Digitalisierung reguliert werden können und müssen. Schon in 2018 hatte Zuckerberg die Frage nach Regulierung klar beantwortet: “My position is not that there should be no regulation.“ Keine Regulierung! Und weiter: „I think the real question, as the internet becomes more important in people’s lives, is what is the right regulation, not whether there should be or not.“ Auch im Juli 2020, zwei Jahre später, folgten alle vier CEOs einer klassischen Verteidigungsstratege: 1. Die Produkte und Dienstleistungen der Tech-Konzerne würden von den Nutzern geliebt, 2. die Konzerne schafften Jobs, 3. der Wettbewerb würde härter und härter (gerade durch die allmächtige, weil unregulierte chinesische Konkurrenz), 4. die Konzerne stünden für den globalen Wettbewerbsvorteil der amerikanischen Wirtschaft und 5. wären damit Grundlage des Wohlstands in den USA. Am Ende war klar: die globalen Tech-Konzerne wehren sich mit Händen und Füßen gegen ihre Regulierung. Ganz vorneweg der Facebook-Konzern!

Auch als Nutzer von Facebook-Produkten muss man sich mit dem beklemmenden Gefühl auseinandersetzen, dass Unternehmen wie Facebook und Co. tatsächlich schon bald mächtiger sein könnten als Staaten. Der Point-of-no-Return, ab dem Regulierung von BigTech durch staatliche Gewalt nicht mehr umkehrbar ist, scheint dabei näher als es für uns alle gut wäre.

Höllenkreis 4: Die Täuschung von Unternehmen 

Der Facebook-Konzern vermittelt seinen bezahlenden Kunden – also nicht den Nutzern der Facebook-Produkte, sondern den Unternehmen, die über Facebook, Instagram und WhatsApp Werbung bei Facebook-Nutzern schalten – das Gefühl, das ganze Konstrukt wäre eine Win-Win-Situation. Tatsächlich ist die Effektivität von Werbung via Facebook zumindest stark fragwürdig – und trotzdem DIE entscheidende Grundlage für Facebook, um Unternehmen Geld, viel Geld, aus der Tasche zu ziehen – zuletzt 21,2 Milliarden Dollar nur in Q3/2020. Dabei blieb unter Strich blieb ein Gewinn von 7,85 Milliarden Dollar hängen. Nicht schlecht für 3 Monate (ein Quartal)

Zuletzt war im Dezember 2020 allerdings sogar in internen Facebook-Dokumenten nachzulesen, dass Facebook selbst (bzw. zumindest Facebook-Mitarbeiter) an der Effektivität geschalteter Werbung zweifeln: „One engineer celebrated that detailed targeting accounted for “18% of total ads revenue,” and $14.8 million on June 17th alone. Using a smiley emoticon, an engineering manager responded, “Love this chart! Although if the most popular option is to combine interest and behavior, and we know for a fact our behavior is almost all crap, does this mean we are misleading advertiser [sic] a bit?” That manager proceeded to suggest further examination of top targeting criteria to “see if we are giving advertiser [sic] false hope.

Wenn solche Aussagen nicht auf einen besonders perfiden Höllenkreis hinweisen! 

Höllenkreis 5: Der Niedergang der Kommunikation

Menschliche Kommunikation VOR dem Aufkommen der sozialen Medien, VOR Facebook lief über persönliche Treffen. Oder Telefonate. Mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke, aber auch anderer digitaler Kommunikationsformen, hielt die digitale Kommunikation Einzug. So werden durch Facebook und Co. nicht nur zunehmend persönliche Gespräche und persönliche Treffen ersetzt. Auch die Bereitschaft via Brief oder Telefongespräch zu kommunizieren sinkt erheblich. Dazu schreibt Marina Österreich in einer Seminararbeit: „Facebook verändert jedoch nicht nur unsere Art zu kommunizieren und ersetzt Briefe sowie Telefonate, sondern beeinflusst zwischenmenschliche Freundschaften. Durch das soziale Netzwerk ergibt sich die Frage, ob unter dem Begriff Freundschaft weiterhin dasselbe verstanden wird, bevor Facebook eine so enorme Bedeutung für uns hatte. Facebook verändert unsere Grundvorstellung einer Freundschaft. Als Facebooknutzer ist es möglich jedem anderen Nutzer eine Freundschaftsanfrage zu senden – unabhängig davon, ob man diesen persönlich kennt, ihm nur einmal flüchtig begegnet ist oder es ein Familienmitglied ist. Der zur Freundschaft eingeladene Nutzer kann entscheiden, ob er die Freundschaftsanfrage akzeptiert oder ignoriert. Freundschaftschließungen werden also durch nur einen Mausklick arrangiert. Diese Funktion unterscheidet Facebook-Freundschaften von zwischenmenschlichen Freundschaften. Denn eine Freundschaft in der realen Welt entsteht durch einen langwierigen Prozess. In dem Verlauf der Freundschaftsentstehung sammelt man gemeinsame Erfahrungen, baut Vertrauen & Gefühle für einander auf und lernt gegenseitige Stärken & Schwächen kennen. Durch die während des Prozesses investierte Zeit, Interesse und Gefühle intensiviert sich eine Freundschaft. Bei Internet-Freundschaften investiert man lediglich einen Mausklick; diesen Freundschaften gelingt also keine Festigung, wenn sie nur auf einer digitalen Basis erfolgen.

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Umfrage: Wie hat sich Ihre Kommunikation verändert?

Höllenkreis 6: Die Verödung menschlicher Beziehungen

Höllenkreis 6 ist die unmittelbare Konsequenz aus Höllenkreis 5.

Höllenkreis 7: Die Verrohung des Menschen

Auch Höllenkreis 7 ist die unmittelbare Konsequenz aus Höllenkreis 5.

Dazu folgendes Video:

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Social Media und Depression: Wenn Facebook dein Leben zur Hölle macht || PULS Reportage

Höllenkreis 8: Die Förderung von Hass

In einer Analyse haben zwei Forscher der University of Warwick mehr als 176.000 Posts, 290.000 Kommentare und 500.000 Likes auf Facebook analysiert – und in Zusammenhang gesetzt mit mehr als 3000 Gewalttaten, die es in Deutschland gegen Flüchtlinge zwischen Januar 2015 und Anfang 2017 gab. Das Ergebnis ihrer Studie: Werden auf Facebook flüchtlingsfeindliche Kommentare gepostet, dann steigt auch die Zahl von flüchtlingsfeindlichen Übergriffen in Gemeinden, in denen es eine hohe Facebook-Nutzung gibt. Tatsächlich können Fake News, Social Bots und Filterblasen die politische Meinungsbildung erheblich beeinflussen und am Ende dazu führen, dass sich der Hass Bahn bricht. 

Das kennen wir ja alle im Übrigen! Auch das ist wenig überraschend!

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Video: Lösch Dich! So organisiert ist der Hate im Netz.

Höllenkreis 9: Meinungsvielfalt

Die Meinungsbildung ist mit der Digitalisierung im Wandel. Bürger*innen sind in der Lage, sich sehr direkt und unmittelbar an intensiven und meinungsstiftenden Diskussionen zu beteiligen und auch die eigene Meinung öffentlich zu äußern. Aus der One-to-Many-Kommunikation klassischer Medien wird eine Many-to-Many Diskussion. So zumindest das positive Narrativ.

Aber ist dem wirklich so? 

Facebook und seine Algorithmen, z. B. der Facebook-Newsfeed-Algorithmusbestimmt, was man als Nutzer sieht und hört und liest. Tatsächlich hat der Facebook-Konzern mittlerweile einen krassen (im Sinne von ganz erheblichen) Einfluss darauf, was Menschen im Netz erleben und sehen. Also auf Meinungsbildung und  Meinungsvielfalt. Facebook ist sich dieser Situation durchaus bewusst. Eigene Algorithmen werden dementsprechend immer wieder angepasst. Ob dies die Gesamtproblematik entschärft ist allerdings zu bezweifeln. Anhand von Algorithmen, die das Verhalten, die Interessen und die Vorlieben der Nutzer kennen und verarbeiten, wird also bestimmt, welche Inhalte Nutzer angezeigt bekommen, z. B. im Facebook-Newsfeed. Persönliche Vorlieben werden für Internetkonzerne wie Facebook somit zum Instrument, um automatisiert (vermeintlich) relevante Inhalte für Nutzer auszuwählen. In der Konsequenz wird die Wahrnehmung der Nutzer eingeschränkt und verzerrt. Nutzer sind schnell in einer Filterblase (Filter-Bubble) gefangen. Von Filterblasen spricht man, wenn Nutzern nur mehr eine homogene Auswahl an Nachrichten und Meinungen präsentiert wird, wenn also Nutzer in Sozialen Medien nur mehr das finden und sehen, was zu ihren Interessen passt. Gerade unter Demokratie-Gesichtspunkten bringt das erhebliche Probleme mit sich. Wichtige politische Probleme verschwinden so schnell aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Themen, die niemanden oder lediglich kleine Interessengruppen ansprechen, werden nicht mehr wahrgenommen oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr öffentlich diskutiert. Am Ende werden nur mehr Informationen, die die eigene Meinung und Weltansicht bestätigen, zur Kenntnis genommen. Informationen hingegen, die nicht zur eigenen Meinung passen werden kaum mehr registriert. Die Fähigkeit zum kritischen und konstruktiven Diskurs geht verloren.

Zuletzt angepasst hat Facebook seinen Newsfeed-Algorithmus im Juni 2020. Fokus der Neuerungen war die höhere Gewichtung von hochwertigem Nachrichten-Content. Dazu Facebook: “When we ask people what kind of news they want to see on Facebook, they continually tell us they want news stories that are credible and informative. Today, we’re updating the way news stories are ranked in News Feed to prioritize original reporting and stories with transparent authorship.” Schwerpunkt dieses Algorithmus-Update waren also Originalität und Transparenz. Eine Chance auf mehr Reichweite haben dadurch insbesondere exklusive oder sehr frühzeitige Berichterstattungen. Zudem hat Facebook die Rolle der „Freunde“ bei Facebook erhöht. Jeder Nutzer kann bis zu 30 Facebook-Freunde und -Seiten als Favoriten markieren, so dass deren Beiträge weiter oben im News Feed angezeigt werden. Aber nochmal: Ob dies die Gesamtproblematik entschärft ist zu bezweifeln.

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Video: Facebook Algorithm 2020 | How Facebook Algorithm Works | Simplilearn.

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